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Mehr Natur und Freiheit für unsere Kinder

Wir Eltern müssen wieder wilder werden ...

In den Osterferien vor zwei Jahren begann ich mit den Kindern unserer Straße in einem dörflichen Teil von Berlin ein Experiment. Das Wetter war blendend, aber meine Tochter Emma, 6, und mein Sohn Max, 9, langweilten sich zu Tode. Sie stritten sich, sie prügelten sich, sie lungerten schlecht gelaunt in meinem Arbeitszimmer herum. Wenn ich die beiden fortschickte, zankten sie sich mit ihren Freunden, wer länger mit deren neuer Playstation spielen durfte. Es waren Ferien, und es war nicht auszuhalten.

Ich entsann mich solcher Qualen aus meiner Kindheit. Aber hatten wir sie nicht immer irgendwann bewältigt und dann die Zeit mit Unternehmungen gefüllt, an die ich bis heute zurückdenke? Wir – das heißt ich und die Nachbarskinder, die ebenfalls überdrüssig auf dem Klettergerüst unseres Spielplatzes gesessen hatten. Dreißig Jahre später ging mir auf: Für Max und Emma gab es keinen solchen Sammelort. Ihre Freunde sind überhaupt nicht mehr draußen. Zur Probe schaute ich aus dem Fenster auf die Straße und die Wiese dahinter. Leere.

 

Eine Fülle von Studien belegt: Dieser Anblick ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Im Freien spielende Kinder sind eine aussterbende Art. Der Aktionsradius unserer Sprösslinge verlagert sich zunehmend auf das Hausinnere. Das Gebiet, in dem sie draußen umherstreifen dürfen, hat sich in drei Jahrzehnten total verkleinert: von vielen Kilometern auf die Länge der eigenen Wohnstraße - als lauerten hinter jedem Müllcontainer Heckenschützen. Eine Befragung amerikanischer Mütter ergab, dass siebzig Prozent von ihnen in der Kindheit ungebremst umherstreifen durften – dass aber nur ein Viertel das ihren eigenen Kindern gestattet.

 

Mit dem Schwinden des ungezügelten Spiels geht den jungen Menschen jedoch etwas Unersetzliches verloren: die Möglichkeit, ihre seelischen, körperlichen und geistigen Potentiale so zu entfalten, dass sie erfüllte Menschen werden. Hirnforscher meinen: Die von keinem Erwachsenen angeleiteten Betätigungen in der Natur sind unabdingbar, um die emotionalen, aber auch die kognitiven Bedürfnisse heranwachsender Menschen zu befriedigen. Ohne die Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert ihre Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude.

 

Gefahr war also im Verzug. Ich schritt zur Tat und sprang zunächst über meinen eigenen (riesigen) Schatten. Ich rief meinen Sohn und fragte ihn: „Wollt ihr nicht ein Baumhaus bauen?“ - „Ein Baumhaus? Wo denn?“ - „Irgendwo. Sucht euch einen Platz und nehmt euch das ganze Holz aus dem Schuppen.“ - „Echt? Alles?“ - „Ja. Und ihr dürft auch das Werkzeug benutzen.“ - „Auch die Säge?“ - „Ja!“ - „Auch den Vorschlaghammer?“ Ich atmete durch. „Ja! Alles.“ Ich gab ihm den Schlüssel und meinte: „Und nun raus. Haut ab!“

 

Fragt man Eltern, warum sie ihre Kinder an Haus, Garten und die Rückbänke der Autos fesseln, lautet die Antwort meist: aus Angst. Aus Angst, dass die Kleinen sich beim Toben im Freien verletzen. Aus Angst, dass ihnen im Verkehr etwas zustoßen könnte. 1971 durften zwei Drittel der deutschen Sieben- bis Elfjährigen auf der Straße Rad fahren. Knapp 20 Jahre später gestatteten Eltern das nur mehr einem Viertel dieser Altersgruppe. Nur 30 Prozent lassen ihre Kinder unbeaufsichtigt auf Bäume klettern. Aber es ist gerade das Unvorhersehbare, das Kinder beim Spiel im Freien fasziniert.

 

Mein Sohn verschwand also mit dem Schuppenschlüssel und seiner Carte blanche zum Abenteuer. Als ich aus dem Fenster blickte, beluden Max, Mustafa, Manuel und Nikolas die Schubkarre mit Latten. Dann waren sie fort. Playstations und iPod touchs waren vergessen, als hätte ein Überspannungsimpuls die Kleingeräte zu totem Material degradiert. Das Wundpflaster, dessen Vorrat ich mehrfach überschlagen hatte, blieb in der Schublade. Es gab nicht eine einzige Schramme.

Doch dann klebte eines Morgens ein Zettel am Brettergewirr im Wald. Es sei „Anzeige erstattet worden“. Mein Sohn kam aufgeregt nach Hause. „Papa, die Polizei ist da!“ Es war das Ordnungsamt. Vor der Hütte die Kinder im Pulk. Die Beamtinnen spannten gerade rot-weißes Flatterband um das Fort: Crime scene. Betreten verboten. Sonst sofortige Strafverfolgung.

 

Der Tatbestand war klar. Die Spielenden hatten mit den Nägeln die mit Farbe zum Fällen markierten Birken verletzt. Ich versuchte es bei der Leitung des Grünflächenamtes. Hier gab man sich jovial. Ich ahne ja nicht, was bei ihnen los gewesen sei. Sie hätten seit Tagen diskutiert, wie mit der in keiner Ausführungsvorschrift verzeichneten Baumhütte zu verfahren sei. Es hätten sich zwei Fraktionen gebildet, eine für die Kinder, eine fürs Prinzip. Die fürs Prinzip hatte gewonnen.

 

Die Kinder trollten sich. Max war den ganzen Nachmittag verschwunden. Abends wirkte er gereizt und müde. Er hatte bei einem Freund ferngesehen, einen Haufen Folgen „Alarm für Kobra 11“ mit ordentlichem Geknalle und Gemetzel.

Es scheint, dass viele Erwachsenen vor lauter gutem Willen den Kindern die Lebendigkeit stehlen. Mit derselben Schnelligkeit, mit der die Wildnis aus der Psyche unserer Kinder schwindet, steigt die Häufigkeit ihrer seelischen Krankheiten. Dem Freiburger Psychologen Wolfgang Bauer zufolge leidet ein knappes Sechstel aller deutschen Kinder an Depressionen, Angst- und Essstörungen. Und jedes fünfte Kind quält sich mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) durch die Schule. Allein von 2005 bis 2008 stieg die Zahl der Verschreibungen des ADS-Mittels Ritalin in Deutschland um ein Viertel.

 

Wir Eltern müssen wilder werden

Dabei müssten wir nur hinsehen, um zu begreifen, was Kinder brauchen. Sie zeigen ihren angeborenen Suchinstinkt nach der Natur und nach der Nähe anderer Wesen im frühesten Alter.

Kleinkinder lallen gleich nach den Wörtern Mama und Papa am ehesten Tiernamen. 85 Prozent aller Geschichten, die Fünfjährige erzählen, sind von Kreaturen bevölkert. Babys wenden sich lieber lebenden Wesen als Automaten zu. Ein Säugling krabbelt, wenn man ihm die Wahl zwischen einem wirklichen Kaninchen und einer Holzschildkröte lässt, hartnäckig auf das echte Tier zu.

 

„Animalische Charaktere sind das Rohmaterial, aus dem Kinder ein Gefühl für ihr Selbst konstruieren“, meint die Entwicklungspsychologin Gail Melson. Und das in allen Kulturen zu allen Zeiten: Das älteste erhaltene Spielzeug ist eine Tonrassel, besetzt mit Fuchsköpfen, Vögeln, Hunden und Krokodilen, vor 3000 Jahren in Ägypten gefertigt.

 

„Uns ist eine tiefe emotionale Verbundenheit mit anderen Lebewesen angeboren“, meint der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson. Der Mensch hat sich als Teil der Ökosphäre entwickelt und durch sie denken und fühlen gelernt. Unsere Kinder werden als „Urmenschen“ geboren, mit allen kognitiven Fähigkeiten, eine gesunde Identität inmitten einer Welt aus belebten Akteuren zu entwickeln. Das werdende Hirn stützt sich demnach in ähnlicher Weise auf die kognitiven Bausteine einer belebten Welt, wie etwa das Knochenwachstum von der Verfügbarkeit von Kalzium abhängt.

 

„Unser Hirn ist ein Beziehungsorgan“, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. Je komplexer die Umgebung, je vielfältiger die Beziehungen, die es in ihr eingehen kann, desto intensiver sein Wachstum. Und bei jeder neu gebahnten Nervenverbindung schüttet das Gehirn beglückende Botenstoffe aus. „Je verschiedener ein Gegenüber ist, in dem sich ein Kind spiegeln kann, umso vollständiger wird das Bild von sich selbst, umso tiefer geht die Selbsterkenntnis.“

 

Dass Kinder sich der Natur zunehmend entfremden, hat somit das Potential einer zivilisatorischen Katastrophe. Wie sollen die künftigen Erwachsenen die Natur bewahren, deren Sauerstoff uns atmen lässt, deren Kohlehydrate und Proteine uns nähren, wenn sie als Kinder nie erfahren, dass das Netz des Lebens Teil ihrer selbst ist?

 

Nur Menschen, die schon früh spüren, was Lebendigkeit ist, können eine lebendige Humanität entwickeln – und unsere belebte Biosphäre erhalten helfen. Nicht schlechte Noten beim PISA-Test sind darum der eigentliche Skandal der Pädagogik – sondern dass wir zulassen, dass unsere Kinder immer weniger spielerische Freiheit lernen und auf Effizienz getrimmte Automaten werden.

 

Um eine solche Freiheit zu ermöglichen, müssen wir Eltern bei uns selbst beginnen. Und das heißt vor allem, wieder mehr Risiko zulassen. Das Risiko, das unsere Kinder beim abenteuerlichen Spiel zu erleben wünschen, ist nichts anderes als das Wagnis, auf der Welt zu sein. Eigentlich müssen wir selbst wilder werden, wenn wir uns wilde – und gesunde – Kinder wünschen. Denn Wildnis, so wurde einmal gesagt, ist dort, wo man in Fülle spielen kann.

 

Text von Dr. Andreas Weber, Biologe, Philosoph, Publizist; Autor des eben erschienenen Buches „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“, Hardcover, 256 Seiten, Ullstein, ISBN 978-3-550-08817-9, 18,50 €

Mädchen am Baum
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